Aktuell nähert sich der Bitcoin wieder dem Niveau des Kursrutsches von Anfang August an. Auch viele andere Kryptowährungen stehen unter Druck. Im Gespräch mit €uro am Sonntag erklärt Christopher Garlich, Geschäftsführer von Heliad Crypto Partners, wieso ein differenzierter Blick auf den Sektor wichtig ist, weshalb das Bild vom Wilden Westen für die Branche nicht mehr gilt und welche Neuerungen im Bereich Blockchain von Relevanz sind.

€uro am Sonntag: Der Bitcoin läuft seit einigen Monaten in einer breiten Range seitwärts. Erwarten Sie, dass dieser Trend – auch im gesamten Kryptosektor – anhält?
Christopher Garlich:
Das ist eine gute Frage. Grundsätzlich muss man zwischen zwei verschiedenen Arten von Coins unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es Währungen und Tokens, die eine Utility, also einen Nutzwert, in den Vordergrund stellen. Damit verbunden ist auch häufig bereits eine Art Umsatz oder Profit, ähnlich einer Dividende bei Aktien, der Coin-Besitzern oder Token Holdern zugutekommt. Der Wert dieser Coins ergibt sich also durch die Nutzung. Dem gegenüber stehen die reinen Wertspeicher, die Store-of-Value-Coins, ohne weitere Einsatzgebiete. Der Hauptvertreter dieser Kategorie ist der Bitcoin. Ähnlich wie bei Gold ergibt sich der Preis vor allem aus dem Sozialkontrakt zwischen den Marktteilnehmern, also rein aus Angebot und Nachfrage, ohne objektivierbaren Wert aus künftig zu erwartenden Rückflüssen. Diese Coins dienen als Inflationshedge oder auch Gegenpol zu etwaigen Geldmengensteigerungen – und natürlich weiterhin als Spekulationsobjekt. Da die Zentralbanken aller Voraussicht nach die Schleusen wieder öffnen, sollten solche Assets wieder an Wert gewinnen. Bei Gold lässt sich eine solche Entwicklung bereits beobachten, beim Bitcoin gibt es aber momentan viele weitere Faktoren, die eine kurzfristige Prognose ungleich schwieriger machen. In einer langfristigen Betrachtung halte ich es durchaus für möglich, dass mit dem Shift des Kapitals von den älteren hin zu den jüngeren Generationen der Bitcoin der Anlageklasse Gold zunehmend das Wasser reichen oder auch irgendwann den Rang ablaufen kann.

Auch weil der Bitcoin im Vergleich zu physischem Gold leichter aufzubewahren, zu transportieren und zu teilen ist?
Absolut. Dazu kommt, dass der Spread zwischen An- und Verkaufspreisen bei physischem Gold mit zwischen zehn und 20 Prozent immens hoch ist. Das ist in den anderen liquiden Anlageklassen völlig undenkbar und auch beim Bitcoin natürlich weitaus enger. Selbstverständlich kann man Gold nicht nur als Barren bei der Degussa um die Ecke kaufen, sondern auch über die Börse, über verschiedenste Produkte. Damit wird aber in gewisser Weise das Thema Gold als sicherer Hafen, der unabhängig von Finanzsystemen und Politik besteht, ein Stück weit ad absurdum geführt. Ähnliches gilt für die Hardcore-Bitcoin-Fans, die auch nicht auf ETPs oder Ähnliches setzen wollen.

In den USA gibt es seit einigen Monaten die Bitcoin-Spot-ETFs, die hierzulande noch nicht verfügbar sind. Welche Möglichkeiten haben Anleger, die nicht direkt eine Kryptowährung kaufen wollen, dennoch an der Entwicklung des Sektors teilzuhaben?
Spot-ETFs, hierzulande würde man sie eher ETPs nennen, sind in Deutschland und Europa eigentlich ein alter Hut. Anleger können hier schon seit vielen Jahren physisch besicherte Kryptoprodukte an den großen traditionellen Börsen kaufen und handeln. Und das nicht nur für einzelne Coins, sondern auch Kryptobaskets, thematische Indizes und so weiter. Europas Vorreiterposition gegenüber den USA zeigt sich auch bei der jüngsten Einführung der Ethereum-Spot-ETFs. Ein großer Kritikpunkt dort ist, dass diese nur ohne die Staking-Renditen angeboten werden können. Bei uns gibt es dagegen schon seit vielen Monaten oder sogar Jahren entsprechende Produkte, die einen solchen Yield mit umfassen.

Das Staking-Verbot für ETFs ist eine Auflage der US-Finanzaufsicht.
Genau. Wie in Europa wird auch in den USA der Anlegerschutzgedanke großgeschrieben. Gerade im Bereich Krypto waren die USA in den letzten Jahren besonders streng und auch wenig kooperativ gegenüber der Blockchain-Industrie. Oftmals bedeutet Anlegerschutz leider gleichzeitig auch Schutz vor Renditen, was für Kleinanleger rückblickend sehr ärgerlich sein kann.

Stichwort Regulierung. Anders, als es bei der breiten Öffentlichkeit oft den Eindruck macht, ist der Kryptosektor beileibe nicht der Wilde Westen. Wie nehmen Sie die Regulierungsstandards wahr?
In den USA ist das Thema Krypto im aktuellen Wahlkampf kein kleines – wohl auch aufgrund des eben Gesagten: rückblickend entgangene Renditen für Privatanleger und Abwanderung von Blockchain-Talenten. Europa hingegen wird wieder einmal seinem Ruf als „Exporteur von Gesetzgebung“ gerecht: Mit der sogenannten MiCA-Regulierung, die bereits ab diesem Jahr greift und die über die letzten Jahre in Zusammenarbeit mit der Industrie entstanden ist, ist man ein deutliches Stück weiter als in den USA. Blockchain-Unternehmen und –Dienstleister haben jetzt endlich ein Regelwerk, das Orientierung gibt hinsichtlich dessen, was erlaubt ist und was nicht. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass MiCA für viele Jurisdiktionen außerhalb der EU als Blaupause dienen wird.

„Oftmals bedeutet Anlegerschutz leider auch Schutz vor Renditen.“

Obwohl es nach wie vor Skepsis gegenüber Kryptowährungen gibt: Die Stimmen, die ein komplettes Verbot fordern, hört man kaum noch.
Die Wahrscheinlichkeit eines kompletten Verbots, also eines Bitcoin- oder Krypto-Banns, wird in der Tat immer geringer. Einige Staaten haben 180-Grad-Wendungen in der eigenen Position hingelegt. Die prominentesten Beispiele sind sicherlich China – die sich sogar mehrfach umentschieden haben – und die USA. Europa hatte seit jeher eine eher nüchterne Herangehensweise und hat Krypto als neue Technologie begriffen, für die es Regulierungen zu schaffen gilt. Meines Erachtens haben Staaten auch deshalb immer weniger Angst vor dem Thema, da es mittlerweile Offenlegungspflichten und die entsprechenden Tools gibt, mit denen sich Finanzflüsse nachverfolgen lassen.

Sie hatten eingangs Coins angesprochen, die eine Funktion haben. Würden Sie diese bitte näher erläutern? Was gibt es da am Markt?
Gerne. Die Basis bilden die sogenannten Smart-Contract-Plattformen, von denen Ethereum oder Solana zu den wohl bekanntesten zählen. Auf diesen Plattformen setzen dann weitere Protokolle und Apps auf. Die dezentrale Struktur der Blockchain macht sie zwar im Vergleich zu zentralen Datenbanken wie AWS von Amazon oder Google Cloud langsam und ressourcenintensiv, aber eben sicher und idealerweise ausfallresistent und unabhängig. Und vor diesem Hintergrund gibt es eine Vielzahl interessanter Anwendungsfälle, die sich bislang hauptsächlich im Finanzbereich materialisiert haben. Man spricht dann auch von DeFi (Decentralized Finance) oder Open Finance. Man könnte sagen, dass über die letzten Jahre weite Teile des Finanzsystems und der Finanzindustrie-Produktpalette, die vielleicht über die vergangenen ein- bis zweihundert Jahre entstanden ist, auf der Blockchain wie im Zeitraffer nachgebaut wurden. Für jedes erdenkliche Kredit- und Investmentprodukt, inklusive Optionen und Futures, stehen mittlerweile Onchain-Pendants zur Verfügung.
Auch Handelsplätze und programmatische Handelsstrategien lassen sich bereits vollständig auf der Blockchain abbilden. Die größte dezentrale Handelsplattform „Uniswap“ schaff es beispielsweise auf Handelsvolumina von bis zu 600 Milliarden Dollar p.a. Das ist bereits deutlich größer als viele lokale Aktienbörsen. Die vermeintliche Langsamkeit einer Blockchain ist im Finanzbereich auch eher als Stärke zu werten, denn mit Zeiten von einigen Sekunden oder Minuten sind die Settlement-Geschwindigkeiten deutlich schneller als im traditionellen Finanzsystem, wo T+2, also Settlement innerhalb von zwei Tagen, noch immer weitestgehend der Standard ist.
Eine weitere absolute Erfolgsgeschichte sind Stablecoins. Also Coins, die an eine Leitwährung geknüpft sind, meistens den US-Dollar, aber auch an Euro, Yen und so weiter. Die größten Coins dort sind USDT vom Anbieter Tether oder USDC DLT-Technologie umzustellen. Aber eine unternehmensseitige Verwendung von Blockchain-basierten Systemen auf breiter Front lässt noch auf sich warten, und bestehende Projekte haben oftmals Testballoncharakter. Ein großer potenzieller Anwendungsfall kann beispielsweise die Kommunikation von ERP-Systemen untereinander sein. Aber auch Logistik und Identitätsverwaltung sind sicherlich weiterhin spannende Kandidaten. Kundenbindungsprogramme wurden ebenfalls vielfach erprobt – oft auch in Form von NFTs. Was all diese Themen eint, ist die Sinnhaftigkeit eines unabhängigen Ledgers, also eben ein dezentrales Datenbanksystem ohne Unternehmensverflechtungen oder Betreiberrisiko, auf das sich alle Stakeholder einigen können. Spannend wird es auch, wenn Blockchain und reale Welt miteinander verknüpft werden, wie zum Beispiel bei der Tokenisierung von Wertpapieren oder anderen Vermögensgegenständen. Damit lassen sich dann tolle Anwendungsfälle bauen, die es heute so noch nicht gibt. Zum Beispiel könnte man so seine Aktien oder auch Teile seiner Immobilie auf die Blockchain bringen und in einem DeFi-Protokoll als Besicherung hinterlegen, um im Anschluss mit nur einem Klick einen Kredit darauf aufzunehmen.

Mit Blick auf die technologische Seite der Blockchain, welche waren Ihrer Meinung nach die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre?
Für den Bitcoin als Store-of-Value ist es wichtig, dass sich relativ wenig verändert hat, sodass es einen Beweis für die Stetigkeit der entsprechenden Blockchain gibt. Ganz anderes gilt für die Smart-Contract-Plattformen, dort ist viel passiert. Ein großes Event war sicherlich die Umstellung bei Ethereum von Proof-of-Work zu Proof-of-Stake, was nebst ökonomischen Faktoren die Blockchain auch deutlich umweltfreundlicher gemacht hat. Auch bei den Themen Skalierung und Transaktionskosten hat sich einiges getan. Dort ist eine Vielzahl sogenannter Layer-2-Blockchains entstanden, die Transaktionen wesentlich schneller und günstiger gemacht und so viele weitere Use Cases ermöglicht haben. Eine der Entwicklungen, die in den letzten Monaten in aller Munde war, sind „Zero-Knowledge-Proofs“, kurz ZK. Eine Stärke, aber für einige Themen auch Schwäche der Blockchain, ist Transparenz und Offenlegung. Jeder kann einsehen, welche Adresse eine Transaktion geschaffen hat. Mittels ZK lassen sich Dinge belegen – zum Beispiel ein Kontostand –, ohne dass dann gleichzeitig die Adresse und damit die dahinterstehende Identität aufgedeckt werden muss. Eines der wichtigsten Innovationsfelder bleibt meiner Meinung nach aber die Nutzerfreundlichkeit bei Blockchain-Anwendungen – da gibt es sicherlich weiterhin viel zu tun und zu gewinnen.