Zu seiner aktiven Zeit wurde Josef Ackermann bewundert, aber auch kritisiert. Im Gespräch mit €uro am Sonntag blickt der ehemalige Deutsche-Bank-Chef auf das Ringen um die Commerzbank, das Vorhaben einer europäischen Bankenunion und neue Technologien im Finanzsektor.

€uro am Sonntag: Wie sieht ein typischer Tag in Ihrem Leben aus, wenn Sie nicht gerade Interviews geben?
Josef Ackermann:
Dann bereite ich mich auf Interviews vor (lacht). Mein Plan war es, mit 72 alle Aufsichtsratsmandate aufzugeben und das habe ich auch gemacht. Meine Frau und ich hatten vor, viel zu reisen. Und dann kam die Pandemie. Nach der Veröffentlichung des Buchs gab es viele Presseanfragen, weshalb ich aktuell oft Interviews gebe. Daneben engagiere ich mich viel bei Start-ups und bin auch oft an Universitäten.

Das Engagement bei Start-ups bedeutet, Sie investieren? Haben Sie einen Schwerpunkt? – Fintechs scheinen naheliegend.
Fintechs gar nicht so sehr, nein. Neben meinen Investments im Internetbereich, bin ich unter anderem bei Brain Health engagiert. Das Unternehmen entwickelt Behandlungen für Depressionen. Zusammen mit etwa 150 ehemaligen Deutsche Bank-Kollegen bin ich zudem Teil eines virtuellen Netzwerks, in dem wir uns gegenseitig mögliche Investments präsentieren. Außerdem bin ich noch bei Macro Hive aus London beteiligt, die Artificial Intelligence im Investment-Bereich einsetzen. Mir macht das viel Spaß, weil es einen zwingt, sich mit neuen Technologien zu befassen.

In welchem Dimension bewegen sich Ihre Start-up-Investments? Sind es eher kleinere oder größere Summen?
Größere Summen sind relativ (lacht). Wahrscheinlich ist es etwas weniger, als die meisten erwarten würden, aber bei Brain Health bin ich zum Beispiel mit mehreren Million Euro engagiert.

Bill Gates hat schon vor 30 Jahren gesagt: „Banking is necessary, but banks are not.” Wie blicken Sie auf neue Technologien im Finanzsektor?
Ich glaube, Fintechs haben eine sehr große Zukunft. Sie sind zum Teil Partner und zum Teil Konkurrenten von Banken. In gewissen Bereichen sind sie eher Nischen-Player. Aus Sicht der Banken stellt sich dann die Frage: Setzt man stärker auf diese Geschäfte, indem man Fintechs akquiriert, oder versucht man selbst in diesen Technologien stärker Fuß zu fassen? Sie haben allerdings den Nachteil, dass sie große bestehende Infrastrukturen haben. Im Gegensatz dazu haben Start-ups ganz andere Kostenstrukturen. Artificial Intelligence hat, glaube ich, das größte Potenzial, weil die Möglichkeiten im Banking gewaltig sind. Das gilt im Bereich Risikomanagement, aber auch Handel und dann sehr stark auch im Bereich der Geldwäsche, also der Entdeckung von Compliance-Defiziten. Im Krypto-Sektor bietet Blockchain das größte Potenzial, weil sie sowohl in puncto Sicherheit, aber auch auf der Audit-Seite viele Möglichkeiten bietet.

Josef Ackermann
Foto: Leon Müller/Börsenmedien
Ende September traf €uro am Sonntag Josef Ackermann zum Gespräch in München.

Aktuell sorgt das Ringen um die Commerzbank für Aufsehen. Wie nehmen Sie den Vorstoß der UniCredit wahr?
Zuerst einmal müssen wir uns die Frage stellen, was eigentlich passiert ist. 2007, also vor der Finanzkrise, hat die Deutsche Bank einen Gewinn von fast zehn Milliarden Dollar eingefahren. Bei JPMorgan waren es 15 Milliarden – größer, aber noch in Reichweite. Heute ist JPMorgan bei 50 Milliarden Dollar Gewinn. Die größeren europäischen Banken – Franzosen und Spanier – liegen bei elf, zwölf Milliarden. Dabei gilt es eines zu bedenken: Nach der Finanzkrise ist Europa in die Schuldenkrise geraten, die eigentlich für die Banken noch gravierender war als die Finanzkrise. Das hat das Wachstum in Europa verzögert. Während die Amerikaner starkes Wachstum hatten, sind wir stagniert. Dazu kommt, dass die Amerikaner sehr schnell und pragmatisch die schlechten Teile der Banken abgewickelt haben. Die guten Teile haben sie in die guten Banken integriert.

Aus eigener Kraft dürften die europäischen Bank diesen Rückstand kaum noch aufholen können. Grenzüberschreitende Fusionen scheinen da fast unumgänglich.
Wir sprechen seit weit über zehn Jahren darüber, dass wir Europa weiterbauen müssen, eine Banken- und eine Kapitalmarktunion brauchen. Die Bankenunion hat die Aufsichtsproblematik gut gelöst. Ich glaube, seit diese bei der EZB liegt, ist es eine qualitativ bessere Aufsicht. Sie ist strikter, schwieriger und mühsamer geworden, aber hat dem System gutgetan. Auch die Abwicklungsmechanismen wurden weiterentwickelt. Wo es noch hapert, ist die Einlagensicherung. Das liegt zum Teil daran, dass wir eine Bankenstruktur haben, die unterschiedliche Einlagensicherungssysteme hat, und natürlich will man nicht Altlasten vergemeinschaftlichen. Das kann ich nachvollziehen.

In Deutschland wird eine europäische Einlagensicherung von Sparkassen und Genossenschaftsbanken abgelehnt. Sehen Sie solche Widerstände auch in anderen Ländern?
Wir sind mental noch nicht europäisch. Natürlich kann man sagen, wir sind die Starken und die Schwachen profitieren von uns. Aber man muss sich überlegen: Wollen wir ein Europa, das wirklich konkurrenzfähig wird? Wir denken noch immer sehr national. Wenn eine italienische Bank – die im Übrigen bezüglich Marktkapitalisierung und Gewinn, die doppelt so groß ist wie die Deutschen Bank – eine grenzüberschreite Transaktion lanciert, entsteht natürlich der Eindruck, jetzt verlieren wir etwas. Und die Frage ist aber: Was ist wichtig für die Bankenlandschaft? Ich glaube, für Deutschland wäre es gut – rein aus deutscher Sicht –, wenn die Commerzbank eigenständig bleibt. Das schafft einen Wettbewerb mit der Deutschen Bank. Aber auf europäischer Ebene sind Konsolidierungsschritt notwendig. So sind im Investmentbanking sind die ersten fünf oder sechs Top-Adressen alles Amerikaner. Wollen wir wirklich nur von amerikanischen Banken abhängig sein? Europa sollte eigene, global operierende Banken haben.

Die Europäer hatten nach der Finanzkrise im Grunde alle eine ähnliche Ausgangslage. Trotzdem hat sich die Bankenwelt innerhalb Europas auf nationaler Ebene stark verändert. Es scheint doch unwahrscheinlich, dass die anderen einen viel besseren Job gemacht haben als die anderen.
Im Privatkundengeschäft ist es sehr schwierig, in Deutschland wirklich groß und profitabel zu werden. Schlicht, weil der Wettbewerb mit den Sparkassen und den Genossenschaftsbanken sehr hoch ist. Das ist für den deutschen Kunden nicht schlecht, aber für die Bank, die wachsen möchte, ist es eine Herausforderung. Auch die Kostenstrukturen sind in Deutschland viel höher. Die UniCredit hat eine Cost-Income-Ratio von etwa 36 Prozent, erreicht also mit weniger Einnahmen einen viel höheren Gewinn. Das gleiche gilt für andere Banken, vor allem in Spanien und Italien. Außerdem ist das Anlagegeschäft, also Private Banking, in Deutschland schwierig, weil die Aktienkultur hierzulande nicht so weit entwickelt ist.
Dann gibt es das reine Kreditgeschäft. Das war in den letzten zwei Jahren aufgrund der stark angehobenen Zinsen nicht schlecht. Jetzt kommen die Zinsen zurück und wird wieder schwieriger. Daher blieb eigentlich nur der Einstieg ins Investmentbanking, wo die Deutsche Bank nach kurzer Zeit zu den führenden Adressen weltweit gehörte. Insgesamt aber habe ich immer das Gefühl gehabt, in Deutschland ist der Wunsch, eine globale Bank zu haben, nicht sehr ausgeprägt.

Handwerklich ist das clever gemacht.

Nochmals zurück zur Commerzbank: Glauben Sie, dass es zu einer feindlichen Übernahme kommt?
Die UniCredit – so interpretiere ich die Aussagen – würde gerne ihre Präsenz hierzulande stärken. Sie besitzt die HypoVereinsbank und zusammen mit der Commerzbank wäre sie dann eine starke Bank in Deutschland. Da die Möglichkeiten für Fusionen in Italien wahrscheinlich eingeschränkter sind, sind grenzüberschreitende Akquisitionen der einzige Weg, zu wachsen. Mit Blick auf das Risiko großer Restrukturierungsmaßen: Das sehe ich gar nicht so. Man will ja Wert gewinnen und auch die Marktanteile nicht verlieren. Wenn zwei im selben Land zusammengehen, ist die Gefahr deutlich größer, dass man viele Kunden verliert oder dort, wo man schon gar nicht dabei sein möchte, plötzlich doppelt dabei ist. Das ist bei grenzüberscheidenden Transaktionen deutlich weniger der Fall. Insofern halte ich eine Fusion aus europäischer Sicht für eine durchaus akzeptable Lösung.

Handwerklich betrachtet: Wie bewerten Sie das Agieren von UniCredit-Chef Andrea Orcel?
Handwerklich ist das clever gemacht. Ob es die feine Art ist oder dem Bild des ehrenwerten Kaufmanns entspricht, bleibt dahingestellt. Es ist ein Wettbewerb und der, der schnell und agil ist, kommt zum Zug. Die Frage ist vielmehr – sollte er die Commerzbank übernehmen –, ob er sich staatstragend verhält, ihr den nötigen Freiraum lässt und sich als Good Corporate Citizen gibt. Daran zweifle ich gar nicht. Die HypoVereinsbank ist ein gutes Beispiel: Man hat gar kein Interesse, etwas zu kaufen und dann alle Kunden zu verärgern.

Trotzdem regt sich auf vielen Ebenen Widerstand gegen eine mögliche Übernahme.
Wir haben es schlicht noch nicht geschafft, in europäischen Dimensionen zu denken. Das ist das größte Problem. Und wenn wir das nicht schaffen, werden wir den Wettbewerb mit Amerika immer verlieren. Und zunehmend natürlich auch mit China und anderen.

Mit der Schuldenkrise mit Griechenland scheint Europa eher auseinandergerückt und seither auch nicht wieder zusammengewachsen. Haben Sie das Gefühl, dass es wirklich eine Wirtschaftsunion im wahrsten Sinne des Wortes geben wird?
Für mich ist der entscheidende Punkt im Draghi-Papier die Frage: Können wir an all den Disziplinierungsmaßnahmen, insbesondere der Schuldenbremse, festhalten? Und das in einer Zeit, in der die Amerikaner und die Chinesen mit gewaltigen Defiziten in Infrastruktur, Verteidigung und neue Technologie investieren. Meine Haltung dazu ist: Wir müssen das ganze Sparpotenzial ausschöpfen und an der Schuldenbremse festhalten. Ob es aber langfristig noch möglich ist, angesichts all der Herausforderungen, das ist eine berechtigte Frage.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass man immer auf dem falschen Fuß erwischt wird.

Ein Teil der Investitionen könnte über die Mobilisierung von privatem Kapital gestemmt werden. Wäre es vor diesem Hintergrund nicht noch viel wichtiger einen funktionierenden europäischen Kapitalmarkt- und Bankenmarkt zu schaffen?
Absolut. Unternehmerischer Freiraum ist meiner Meinung nach das Wichtigste. Eine europäische Industriepolitik und Verschuldung halte ich für den falschen Weg. Wenn die Politik der Meinung ist, dass sie am besten weiß, in welche Richtung die Wirtschaft gehen muss, dann finde ich das sehr, sehr gefährlich und wahrscheinlich führt das in die Irre. Ich bin auch manchmal erstaunt, wie viele Unternehmen immer nach dem Staat rufen. Der Staat kann das gar nicht mehr auffangen, er ist schon jetzt so verschuldet, dass er keine großen Handlungsspielräume mehr hat. Damit stellt sich die Frage: Woher kommt das Kapital? Ich glaube an eine Kapitalmarktunion, in der wir europaweit privates Kapital dorthin lenken können, wo die innovativsten Projekte sind. Das kann in Frankreich oder in Spanien oder eben auch in Deutschland sein. Und dazu brauchen wir eben mehr Liquidität.

Ende Mai wurde die Umsetzung der Basel-III-Richtlinie in der EU weitestgehend abgeschlossen. Ist der Bankensektor aufgrund der Regulierungen sicherer geworden?
Die Erfahrung in der Finanzkrise hat gezeigt, dass man immer auf dem falschen Fuß erwischt wird. Mitte 2007 gingen wir davon aus, dass die Risiken im Immobilienbereich zwar groß sind, aber von allen getragen werden können und keiner mehr Risiken nimmt, als er mit dem eigenem Kapital verkraftet. Das war ein riesiger Irrtum. Man hat seither viel gemacht, beispielsweise höhere Kapitalanforderungen. Auch die Liquiditätssteuerung ist sicher vorsichtiger geworden. Das geht alles in die richtige Richtung. Aber Risiken entstehen eben oft dort, wo man sie nicht gleich vermutet. Ein Beispiel sind die USA, wo gesagt wurde: Wichtig sind die großen Banken, die kleinen oder mittleren spielen keine große Rolle. Im Frühjahr 2023 haben wir gesehen, dass auch die systemisch relevant sein können.

Sehen Sie weitere Probleme im Hinblick auf die Regulierung?
Eines, ja, und das ist das Thema „Abwicklungsmechanismus“. Das ist in der Regel eine Ex-Post-Betrachtung: Wenn diese Bank kollabiert, was machen wir dann? Es sollte doch vielmehr darum gehen, dass es nie so weit kommen darf. Deshalb finde ich, sollte die Ex-Ante-Betrachtung etwas stärker im Fokus stehen. Ein gutes Beispiel ist übrigens die Credit Suisse, der die Kombination aus Social Media und Digitalisierung schwer zugesetzt hat. Folgendes Szenario: Sie sitzen abends vor dem Fernsehen und hören, dass Bank A große Probleme hat. Was machen sie, wenn sie dort Kunde sind und mehr als 100.000 Euro bei der Bank liegen haben? Sie nehmen ihr Handy und transferieren das Geld quasi in Echtzeit. So hat die Credit Suisse in kürzester Zeit Milliarden verloren. Banken sind zu einem ganz großen Teil sehr kurzfristig refinanziert, geben auch Kredite, kaufen mehr Papiere und so weiter. Wenn viele Kunden ihre Depots oder die Einlagen auf einmal zurück haben wollen, hat die Bank sofort ein Liquiditätsproblem.

Das Allerwichtigste ist, dass man Vertrauen in die Eigenfähigkeiten hat.

Wenn Sie noch einmal von vorne anfangen könnten: Würden Sie nochmal den Karriereweg Bank wählen?
Würde ich noch mal ins Banking gehen? Ja. Ich finde nach wie vor das Bankgeschäft sehr faszinierend, und zwar, weil man in so viele Bereiche hineinschauen kann. Ein Beispiel: Wenn man nach Tokio reist, dann trifft man nicht nur eine Firma aus dem Pharma-Bereich, sondern auch eine aus dem IT-Sektor und viele andere. Wenn Sie Schokoladehersteller sind, dann treffen sie den Kakao-Lieferanten, den Milch-Lieferanten und wahrscheinlich die Abnehmer, also den Zwischenhändler. Aber die Breite an Branchen, das ist einmalig im Banking. Wenn ich noch einmal beginnen würde, würde mich vielleicht das Unternehmerische etwas mehr reizen und würde ich mich eher in Richtung Private-Equity orientieren.

Gibt es etwas in Ihrer beruflichen Laufbahn, das Sie bereuen? Das Sie, wenn Sie könnten, ungesehen machen würden?
Ja, ich würde das Victory-Zeichen nicht machen. Dass ich es damals nicht so gemeint habe, habe ich auch in meinem Buch beschrieben. Es zeigt, wie eine Unachtsamkeit in einem ganz anderen Zusammenhang ein Leben in gewissem Sinne prägen oder beeinflussen kann.

Was würden Sie an einem jungen Menschen heute raten?
Ich war kürzlich drei Tage an der Universität St. Gallen, dort hatte ich ein Open-Door-Event. Die Studenten konnten kommen und es gab viele Panels, Vorträge und so weiter. Was mich hat fasziniert, dass mich einige junge Menschen gefragt haben: „Ich bin jetzt 21, soll ich mir Gedanken um die Altersvorsorge machen?“ Als ich 21 war, war das wirklich kein Thema. Aber eigentlich war sich sehr beeindruckt, dass die meisten Studenten sehr erfolgsorientiert waren und etwas im Leben bewegen wollten. Dazu sage ich immer: Das Allerwichtigste ist, dass man Vertrauen in die Eigenfähigkeiten, eine starke kulturelle Neugierde hat und bereit ist, Risiken zu nehmen.